Ich war neunzehn Jahre alt, als ich eine Erfahrung machte, die mein Leben dramatisch verändern sollte. Damals ging ich im letzten Jahr zur Schule: Abitur. Ich hatte in den letzten Jahren der Schulzeit herzlich wenig Interesse daran gehabt, zur Schule zu gehen und das besserte sich bis zum Schluss nicht. Im Gegenteil. In meinem dreizehnten Jahr brach ich die Schule ab, drei Wochen nach den Sommerferien.
Fünf Monate später machte ich die Erfahrung, die ich eingangs erwähnte. Sie ist der Grund dafür, warum ich nie zur Uni gegangen bin - obwohl ich mein Abitur doch noch machte und sicher das Zeug dazu hatte.
Meine Urgroßmutter, ein Buch & die Liebe
Ich las damals ein Buch - es war ein kalter Januar im Jahre 2019 - das meine Urgroßmutter mir gegeben hatte. Ich hatte eine besondere Beziehung zu dieser Frau. Sie lebte gleich neben dem Bremer Bürgerpark und jedes Mal, wenn ich sie besuchte, kochte sie milden Kaffee und servierte süßen Kuchen mit viel Schlagsahne. Wir sprachen für Stunden und oft sprachen wir über den Tod. Sie war ganz offen damit, dass sie des Lebens müde war. Mich faszinierte, wie sie doch so eine lebensnahe und lebensfrohe Frau war und die Schönheit der Welt mit jedem Wort zu ehren wusste und doch nicht mehr leben wollte. Sie sprach oft davon, dass ihre Aufgabe erfüllt sei und sie darauf warte, eingelassen zu werden, zurück in die geistige Welt. Ich war fasziniert, aber ich verstand nicht.
Heute weiß ich, dass zumindest noch diese Aufgabe in ihrem Leben ungetan gewesen war: mir das eine Buch zu geben, das mein Leben verändern würde.
Ich las also damals das Buch - es war ein kalter Januar im Jahre 2019 - das meine Urgroßmutter mir gegeben hatte. In dem Buch geht es um die Geschichte eines Mädchens, das in der Schweiz geboren wird. Ihre Mutter erzählt von der Schwangerschaft und der komplizierten Frühgeburt, nach der die Zwillingsschwester des Mädchens verstirbt. Sie erzählt von den herausfordernden Kindheitsjahren ihrer Tochter, die über Jahre mit einer Magensonde künstlich ernährt werden muss. Das Kind entwickelt sich nur langsam und fällt durch eine ganze Menge Ungewöhnlichkeiten auf. Mit vierzehn Jahren beginnt sie schließlich wie selbstverständlich davon zu erzählen, dass sie die Emotionen ihrer Mitschüler:innen in verschiedenen Farben sehen und ihre Gedanken hören kann.
An diesem Punkt ist das Buch nicht einmal zu einem Viertel fortgeschritten. Ich las wie gebannt - und spürte zu diesem Zeitpunkt bereits, wie sich etwas in mir regte.
Die verdutzte Mutter erzählt weiter, dass ihre Tochter nun auch von Verstorbenen berichtet, mit denen sie kommuniziert. Dass sie mit ihrer verstorbenen Zwillingsschwester in engem Kontakt sei.
Mir war das alles nicht neu. Ich hatte nie von solchen Fähigkeiten gehört, niemand hatte mir je erzählt, dass man mit Verstorbenen kommunizieren könnte - aber mir war das nicht neu. Die Farben, die dieses Mädchen sah, die Gedanken anderer, die sie hörte, Schutzengel und geistige Begleiter, von denen sie zu berichten wusste. Es war, als erinnerte sich etwas in mir.
Während ich schließlich das Kapitel „Seelen und Seelenpläne“ las, stellte sich ein unsagbarer Frieden in mir ein. Ich erinnere mich, wie ich damals zu meiner Mutter sagte:
„Mama, es fühlt sich an, als hätte sich das letzte Puzzleteil eingefügt“.
Ich bin nicht religiös aufgewachsen. Meine Eltern waren keine militanten Atheisten, aber sie vermittelten mir die nüchterne Weltanschauung, nach der die Welt aus Materie besteht und die Erde ein (schützenswerter) Felsbrocken in einem grenzenlosen, toten Universum ist. Gott spielte zuhause keine Rolle. Auch bei uns war Gott schon längst tot.
In diesen Tagen, in denen ich das Buch las, zog unvorstellbarer Frieden in mich ein. Noch drei Jahre vorher hatte ich gewollt, mein Leben zu beenden. Im Schmerz darüber, wie aussichtslos mir die Weltlage schien, war ich in meinen Teenage-Jahren vollkommen resigniert. Dieses Buch nun hatte etwas ausgelöst, eine Art Kettenreaktion, und es ließ meine alternativlos geglaubte Verbitterung und jugendliche Depression in Luft auflösen. Sie war innerhalb weniger Tage verschwunden. Ich war wie ausgetauscht. Meine Gedanken waren plötzlich von einer ungekannten Klarheit. Es war, als würde sich alles zusammensetzen, wie die Scherben einer Vase, die in tausend Teile zersprungen war. Zu dem Gefühl der Klarheit und des Friedens, kam ein Gefühl von unendlicher Liebe. Ich spürte eine unendliche, unerschöpfliche Liebe, die den Menschen und der Erde galt. In diesen Tagen erfuhr ich, dass Liebe im Wesen bedingungslos und ewig ist.
Ich kann dieses Erlebnis nur als etwas bezeichnen, für das ich gewöhnlich das Wort Erinnern verwende. Es ist, als hätte ich all das, was mir in diesen Tagen zuteil wurde, schon immer tief in mir gewusst - ich hatte es nur vergessen.
Nach der Schule ist vor dem Studium
Über ein Jahr später beendete ich dann doch meine Schulkarriere, dieses Mal ganz offiziell und ein für allemal. Ich hatte mein Abitur in der Tasche und vor mir die Welt, die für mich, so war ich sicher, einen ganz besonderen Weg bereithielt.
Während meines letzten Schuljahres hatte ich viel gelesen und viel gelernt. Weniger für mein Abitur, dafür umso mehr zu Dingen, die mich wirklich interessierten. Ich begann damals, mich intensiv mit der Quantenphysik und ihren philosophischen Implikationen auseinanderzusetzen, las Werner Heisenbergs Aufsätze in „Quantentheorie und Philosophie“, entdeckte den Physiker und Outcast Burkhard Heim und versuchte mich daran, seine hochkomplexe einheitliche Feldtheorie zu verstehen. Mein Vater fand eine alte Buchausgabe des Spektrum-Verlags mit dem Titel „Theorien für Alles“, die ich aufmerksam studierte. Zu dieser Zeit las ich das erste Mal die „Theosophie“ von Rudolf Steiner. Ich begann, mich für Nahtoderfahrungen zu interessieren und stolperte über das Werk von Dr. Med. Raymond A. Moody. Auf der Suche nach Erfahrungsberichten zu ähnlichen mystischen Erfahrungen wie die meinige, hörte ich erstmals von den erstaunlichen Erlebnissen, die Menschen durch psychedelische Substanzen und Pflanzen machen. Ich las über die östliche Chakra-Lehre, die Energiekörper des Menschen und vertiefte mich in die offenen Fragen der Evolutionstheorie.
Ich hatte einen ungeheuren Drang zu lernen, den meine Lehrerinnen und Lehrer schwindelig hätte werden lassen. Aber davon bekamen sie nichts mit. In der Schule saß ich meist desinteressiert oder in Gedanken versunken auf meinem Platz. Wenigstens Mathe faszinierte mich wieder.
Als ich aus der Schule draußen war, änderte sich daran nicht viel. Im Gegenteil. Im Winter danach las ich so viel, dass ich dissoziative Schübe hatte. Ich musste erst noch lernen, wie mit diesen neuen Kräften umzugehen war.
Ich hatte nach meinen Erfahrungen in der Schule nicht für möglich gehalten, dass ich einen solch starken Drang zum Lernen entwickeln könne - doch hier war ich: mit 20 Jahren hatte ich ein autodidaktisches Großprojekt gestartet. Es war für mich gar keine Frage, dass ich mich in die verschiedensten Themengebiete einlas. Meine Recherchen führten mich von der Philosophie, der Psychologie, der Biologie und Physik in die Archäologie, Anthropologie und Soziologie1. Sowohl die Naturwissenschaften als auch die Geisteswissenschaften faszinierten mich.
Während meiner Studien begriff ich bald, dass die Fragmentierung der einzelnen Wissenschaften etwas verheerendes mit sich bringt: die Suche nach Wahrheit (als das große Projekt der Wissenschaft) kann in der heutigen Welt nicht gleichzeitig auch die Suche nach Weisheit sein.
Und noch etwas begriff ich bald, das nicht minder von Bedeutung ist: In allen Bereichen, in denen Menschen grundlegende Wissenschaft betreiben (d.h. in allen Bereichen, in denen Menschen nach ersten Wahrheiten suchen), deuten sich gewaltige Paradigmenwechsel an.
In mir wuchs die Gewissheit, dass ich in eine höchst außergewöhnliche Zeit geboren war, in der große Umbrüche geschehen und geschehen werden (über die Dimension und das Ausmaß dieser Veränderungen werde ich auf Anthrospect schreiben). Viele der Phänomene, die erst in den letzten 100 Jahren in das Kulturleben des Menschen aufgestiegen sind, deuten an, von welcher Tiefe diese Umwälzungen sind. Vom Aufkommen der Frauenbewegung (bzw. der jüngeren LGBTQ+-Bewegung) und der kritischen Reflexion des (typisch westlichen) imperialistischen Projekts, über die (Wieder-)Entdeckung psychedelischer Substanzen (insbesondere durch das, was wir heute als psychedelische Renaissance erleben), hin zu einem wachsenden Interesse an bzw. Vermögen zu psionischen2 Fähigkeiten, dem damit eng verwandten UFO-Phänomen, bis zur Renaissance der Astrologie... die Liste ginge weiter. Ich hatte recht bald begriffen, dass merkwürdige Dinge vor sich gingen, von denen die allermeisten Menschen noch nicht den Hauch einer Ahnung hatten.
Es war bei einem Telefonat mit einem guten Freund der Familie, der mich damals väterlich fragte, wo ich denn im Leben stünde und wonach mir sei, jetzt wo die Schulzeit passé wäre. Ich wollte gerade ansetzen von meiner Unentschlossenheit zu heucheln, dass es ja doch so viele spannende Studiengänge gäbe und dass ich noch nicht wüsste, worauf ich mich spezialisieren wollte, da wurde mir mit einem Mal sehr klar, dass ich meine Gedanken auch zu Worten formen musste. Dass ich nicht studieren wollte, sagte ich.
Den meisten Menschen muss das merkwürdig erscheinen, so wie es damals dem Freund der Familie merkwürdig erschien. Die Begeisterungsfähigkeit und Lernbereitschaft müssten mich zu einem außerordentlichen Studenten machen, sollten sie meinen. Sie mögen Recht haben. Aber ich glaube, dass ein herkömmliches Studium unter den heute gegebenen Umständen immer seltener einen Wert hat. Ich will versuchen, das ein wenig genauer zu erklären.
Was ist ein Studium heute wert?
Zu aller erst ist es mir wichtig zu betonen, dass ich in erster Linie von meinen Erfahrungen und meinen Beobachtungen berichte. Das bedeutet, dass die Einschätzungen und Entscheidungen, die ich treffe und getroffen habe, immer und an erster Stelle mir gelten.
Ich will aber nicht nur davon sprechen, was mir ein Studium wert ist, sondern auch davon, was es ganz allgemein wert ist, wenn die grundlegenden Dinge in Betracht gezogen werden, die unsere gegenwärtige historische Situation ausmachen.
Der Frieden und die Liebe in mir hatte etwas eigenartiges in mein Leben gebracht. Ich wusste nun darum, welch friedfertige und liebevolle Wesen wir Menschen sein können. Es ist seither, dass ich am Horizont ein helles, reines Licht erblicke, das verheißungsvoll leuchtet. Es ist ein Licht aus der Zukunft, in dem das hohe Potenzial einer neuen Menschheit liegt.
Das klingt schön, ich gebe es zu. Aber bei aller Romantik hat das für mich vor allem praktische Konsequenzen: für mich ist klar, dass unser gesamtes gesellschaftliches Leben, sei es der öffentliche oder der private Raum, danach eingerichtet sein sollte, dass wir einander lieben lernen. Das mag nach einem illusorischen Ziel klingen - in diesem Fall jedoch bin ich gerne delusional.
Für mich stellte sich die Frage: „Kann ich in einem Studium lernen, wie ich die Welt zu einem liebevolleren Ort mache?“.
Um ganz klar zu sein: Meine Antwort darauf lautete und lautet auch heute nicht „Nein“. Uni kann das, so wie grundsätzlich jeder Ort und jede Situation diesem Zwecke dienen kann. Für mich aber war ausschlaggebend, dass das sogenannte Studieren™ diesem Zwecke kaum und vor allem kaum unmittelbar dienen wird.
Über Soft Skills und Hard Skills
Soft Skills sind persönliche und soziale Fähigkeiten, die das Verhalten und die Kommunikation einer Person ausmachen. Das umfasst im Grunde alle Eigenschaften bzw. „Fähigkeiten“ (denn ja, das will gelernt sein), die einen Menschen zu einem warmherzigen Menschen machen. Hard Skills sind fachliche Kompetenzen und Fähigkeiten, die man erlernen und nachweisen kann. Sie sind die klassischen Berufsfähigkeiten, die man für bestimmte Aufgaben und Rollen benötigt.
Die Universitäten dieser Welt bilden vor allem für eines aus: die Hard Skills.
Es gibt immer mehr Universitäten, die Wert darauf legen, dass auch die Soft Skills Einzug nehmen in die Lehrpläne. Das ist eine wünschenswerte Entwicklung, die ohnehin weiter zunehmen wird.3 Dennoch bleibt die Priorität klar: Soft Skills bleiben ein wichtiges Add-on, mehr nicht.
Wird das der gegenwärtigen Situation gerecht, in der wir uns gesellschaftliche befinden?
Ich glaube nicht. Das Ungleichgewicht zwischen Hard Skills und Soft Skills, das wir in den Institutionen unserer Gesellschaft - und bedeutenderweise eben im Bildungssystem selbst - haben, spiegelt die Misere, in der wir uns kollektiv befinden. Noch dazu: das Ungleichgewicht ist nicht bloß ein Problem des Bildungssystems. Es liegt an der Wurzel der Probleme, mit denen wir heute an allen Stellen des privaten und öffentlichen Lebens konfrontiert sind.

Ich glaube fest daran, dass wir unsere Bildungssysteme dahingehend umgestalten müssen, dass wir von Grund auf lernen, wie wir von Mensch zu Mensch in Beziehung gehen. In unserer Welt zeigt sich ein erschreckendes Unvermögen, die Begegnung zum Anderen zu verkörpern. Paradoxerweise muss dieses Unvermögen auch die Beziehung des Menschen zu sich selbst meinen, und wir wissen, dass extrem viele Menschen (darunter viele in der Dunkelziffer) ein gestörtes Verhältnis zu sich selbst und/oder zum eigenen Körper haben.
Bottom Line: was heute durchaus als existenzielle Kompetenzen zählen müssen, werde ich in den herkömmlichen Bildungseinrichtungen nicht erlernen können.
Das Problem der Universitäten
Hinzu kommt ein vergleichsweise praktisches Phänomen: Die Universitäten werden vom Internet ersetzt. Das liegt daran, dass es gemeinhin eine überaus fragwürdige Vorstellung davon gibt, was Bildung bedeutet.
Man sagt zwar solche schlauen Sätze wie: je höher die Bildung ist, desto größer wird die Fähigkeit, Verständnis für Zusammenhänge zu entwickeln und wahre Erkenntnisse zu gewinnen. Aber gilt das für die Universitäten heute noch? Ich bezweifle das.
Wikipedia sagt: „Im weiteren Sinne bezeichnet Bildung die Entwicklung eines Menschen hinsichtlich seiner Persönlichkeit zu einem „Menschsein“, das weitgehend den geistigen, sozialen und kulturellen Merkmalen entspricht, die jeweils in der Gesellschaft als Ideal des voll entwickelten Menschen gelten können (wie zum Beispiel das humboldtsche Bildungsideal). Ein Merkmal von Bildung, das nahezu allen modernen Bildungstheorien entnehmbar ist, lässt sich umschreiben als das reflektierte Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt.“ So schön, so gut.
Ich kenne das Universitätsleben auch von innen, es wäre fast gemein, einen solchen Essay ohne diese Einsichten zu schreiben. Ich habe einige (spannende und weniger spannende) Vorlesungen besucht und viele Vorlesungen online geschaut (wie es viele Studierende heute sowieso tun), vor allem aber kenne ich die Lebensrealitäten meiner studierenden Freunde. Der Eindruck, den ich bekommen habe, deckt sich kaum mit den Sätzen, die wir eben über den Bildungsbegriff gelesen haben.
Erwachsenenbildung ist in unserer Gesellschaft zu etwas verkommen, das man als bloße Informationsübermittlung beschreiben könnte. Ich wähle diese Formulierung deshalb, weil sie so technisch klingt. Informationsübermittlung ist ein Wort, dass ich intuitiv im Computing verorten würde. Aber es trifft auch zu für die Art und Weise, in der Bildung an Universitäten heute gelebt wird.
Einerseits sind die pädagogischen Kompetenzen vieler Dozenten zum Haare raufen. Die meisten der Vorlesenden nehmen ihren pädagogischen Auftrag überhaupt nicht mehr wahr, weil sich (verstärkt seit Covid) eine Selbstverständlichkeit eingewohnt hat, nach der Lehrtätigkeit daraus besteht, eine möglichst umfangreiche Folienpräsentation vorzulegen und die Inhalte schließlich abzufragen. Abgesehen davon, dass die Prüfungssituationen, die sich in den Universitäten abspielen, aus pädagogischer Sicht oft völlig kontraproduktiv sind, kann diese Art der „Wissensvermittlung“ heute wunderbar das Internet übernehmen - sogar weitaus besser.
Andererseits wurden die Curricula europäischer Universitäten immer weiter darauf spezialisiert, auf bestimmte Berufe hin auszubilden4. Das ist für eine stabile Arbeitsgesellschaft zu einem gewissen Grade sinnvoll, unter den heute gegebenen Umständen allerdings ist das fatal. Wir haben einen sich rasant verändernden Arbeitsmarkt, in dem sich bereits heute ständig neue Arbeitsfelder erschließen, während ganze Branchen durch die zunehmende Digitalisierung und den Vormarsch der sogenannten Künstlichen Intelligenz zusammenbrechen.
Beides führt dazu, dass Universitätsabschlüsse rapide an Wert verlieren. Das Internet sorgt dafür, dass ein Bachelor in vielen Branchen heute einfach kein Nachweis mehr dafür ist, ob jemand tatsächlich besser qualifiziert ist als einer, der keinen Universitätsabschluss hat. Und die sich verändernden Lebensrealitäten in allen Bereichen entwerten viele der Hard Skills, die einen Universitätsabschluss einst wertvoll machten.5
Du kannst dich nicht von Luft und Liebe ernähren
Diesen Satz habe ich oft zu hören bekommen: „Du kannst dich nicht von Luft und Liebe ernähren“. Tatsächlich habe ich wenige „wertvolle“ Zertifikate vorzuweisen. Das Abitur hat sich bewährt, das will ich nicht verkennen: ich habe mich vor einigen Jahren in die Uni eingeschrieben, um das Semesterticket für Studierende zu genießen. Aber auch das Abitur hätte ich nicht unbedingt gebraucht. Es zählt etwas anderes.
Es kommt immer wieder vor, dass Menschen mir sagen, dass sie bewundern, mit welchem Mut ich meine Entscheidungen treffe. Dabei ist es eigentlich kein Mut, denn tatsächlich spüre ich keine Angst. Es sind andere Entscheidungen, bei denen ich Mut brauche, und oft genug bin ich überhaupt nicht mutig. In dieser Sache allerdings bin ich klar: I'll be okay und zwar in einem ganz weltlichen, materialistischen Sinne. Der Grund für mein Vertrauen wurzelt in meinem Gespür für die Zeit, in der wir heute leben. Ich beobachte, dass sich das, was ich als inneren Wert empfinde, zunehmend auch in der Welt als neue gesellschaftliche Werte manifestiert. Der Effekt davon ist, dass neue Hard Skills entstehen, die die Soft Skills von heute voraussetzen – und aus diesen schließlich auch echter wirtschaftlicher Wert erwächst.
Arbeitgeber stellen heute immer seltener nach Zertifikaten oder Abschlüssen an, sondern legen zunehmend Wert auf authentische intrinsische Motivation, Anpassungsfähigkeit und die Fähigkeit, Probleme kreativ zu lösen6. Das hat - wie besprochen - damit zu tun, dass Universitätsabschlüsse in vielen Branchen an Wert verlieren. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, dass echte Qualifikation weit über formale Bildung hinausgeht. Wer für eine Aufgabe brennt, arbeitet produktiver und engagierter - das wissen heute auch viele Arbeitgeber.
Natürlich kann ich nicht von Luft und Liebe leben. Das war nie der Plan. Aber Arbeit (und Bildung!) müssen nicht ihr Gegenteil sein. Es ist bittere Realität, dass Arbeit und Freiheit – oder Arbeit und echte Leidenschaft – für viele Menschen in einem unauflösbaren Widerspruch stehen. Dann ist die Antwort simpel: ich mache da nicht mit. Der Plan ist, diesen Essay allen meinen zukünftigen Bewerbungen beizulegen. Und schließlich einen Weg zu bereiten, auf dem mein Wirken in der Welt von Herzen kommen kann und gleichzeitig wirtschaftlich funktioniert. Es wage, wer es anders will.
Also, was willst du wirklich?
Ich wollte nie zur Uni gehen. Ich wollte nie in Klassenzimmern oder Hörsälen sitzen, in denen man mir in einer allzu arroganten Überzeugung davon erzählt, dass unsere Welt durch einen großen Knall aus dem Nichts entstand, dass der Mensch ursprünglich vom Affen abstammt und dass das Gehirn unser Bewusstsein „hervorbringt“. Ich wollte nie Bücher lesen, nur um ihre Inhalte in einem aberwitzigen Prüfungsspiel auszuspucken und sogleich wieder zu vergessen. Ich wollte mich nie in einen engen Studiengang zwängen, nur um nach drei oder vier geschlagenen Jahren meines Lebens ein semi-wertvolles Blatt Papier in der Hand zu halten. Die Verhältnismäßigkeiten sind doch gelacht.
Es ist Teil der Wahrheit, dass diese Polemik auch in meinen Entscheidungen wirkt. Ich glaube wirklich, dass es anders geht. Freier, revolutionärer, radikaler7. Während die Generationen meiner Großeltern und Eltern noch zur Uni gingen, um sich politisch und weltanschaulich zu bilden, zu verbinden und zu organisieren, haben Universitäten heute nur noch selten politische Schlagkraft. Auch das ist ein Symptom des Mangels an echten Freiräumen, in denen denkende Menschen zusammenkommen. Unsere Universitäten können das nicht mehr bieten.
Also, was willst du wirklich?
Bei dieser Frage lohnt es sich, wirklich einmal innezuhalten. Wenn ich in mich hineinspüre, dann steigen solche Antworten in mir auf:
Ich möchte mich bilden, wie ich es wünsche. Ich will Bildung erfahren, die in Berührung geht mit den Wirklichkeiten, die ich erlebe. Ich will den Impulsen folgen, die ich in mir wahrnehme. Ich möchte spielerisch forschen. Ich will mich führen lassen von meinem Wundern und Staunen. Ich wünsche mir, darin begleitet zu sein, von Männern und Frauen, von Mentoren und Mentorinnen, die bereit sind, ihre Weisheit und ihr Wissen weiterzuschenken.
Ich möchte mit dem Wissen und den Fähigkeiten, die ich auf diese Weise in mir erwecke und entdecke, dem Leben und den Menschen dienen.
Alternative Wege
Viele Menschen glauben, dass ein solcher Weg innerhalb der Systeme, in denen wir leben, praktisch unmöglich sei. Und es stimmt, er ist herausfordernd. Aber er ist nicht unmöglich. Es gibt immer mehr solcher Räume und Einrichtungen(!), in denen zeitgemäße Bildung stattfindet. Das Coyote Teaching des Art of Mentoring8 wird an den meisten Wildnisschulen in ganz Europa angewendet und als eine zentrale pädagogische Fähigkeit gelehrt. Die Ubiquity University ist ein hervorragendes Beispiel für zeitgemäße Bildung innerhalb des akademischen Bereiches. Nicht nur die Kurse und Abschlüsse sind ihren Inhalten nach nah am Zeitgeist, sondern auch die Art, wie nachhaltiges Lernen verstanden wird, macht Hoffnung:
An einer anderen Stelle setzt die Idee des Bildungsbriefes an. Der Bildungsbrief ist ein neuer, zeitgemäßer Abschluss, der sich dem individuellen Bildungsweg anpasst und die Anforderungen trifft, die ein Abschluss heute haben sollte. Tatsächlich wird er immer häufiger als wertiges Zertifikat angenommen - auch das wird weiter zunehmen.
Mit der Uniartcity hat die Idee eines neuen Universitätswesens eine weitere kreative Form angenommen: „Jede Uniartcity ist eine freie Bildungs- und Kulturoase für junge Menschen, die sich selbstbestimmt bilden und entfalten wollen.“ Das Projekt wurde 2023 von jungen Menschen gegründet, die einen Raum für zeitgemäße Bildung schaffen wollen. Nachdem die erste Uniartcity dieses Jahr (2025) ins zweite Semester geht, laden die jungen Menschen ein, weitere Uniartcitys zu gründen.
Vom Samen zur Blüte
Der Grund, warum ich nie zur Uni gegangen bin, liegt darin, dass die Zeit reif ist, neue Wege zu gehen. Wir haben darauf geschaut, inwiefern die Universitäten in verschiedener Hinsicht scheitern, ihre eigentliche Funktion zu erfüllen. Das Problem wurzelt tief und es wäre vermessen, von Schuldigen zu reden. Stattdessen will ich von Verantwortung reden, denn ich nehme meine wahr.
Ich habe die Entscheidung getroffen, einen neuen Bildungsweg zu gehen, um meine individuellen Freiräume zu bewahren und selbstbestimmt gestalten zu können. Bildung ist eine Kunst, insofern der Mensch sich in ihr zum Menschsein bildet. Ich vertraue darauf, dass dieser Weg mir und der Welt dient. Erst wenn wir neue Wege gehen, geben wir der Möglichkeit Raum, eine neue Welt zu erschaffen. Es wird an uns sein, neue Universitäten zu gründen und in ihnen eine Bildung zu verwirklichen, die den Menschen wirklich dient.
Wahrhaftige Intention ist wie ein Samenkorn: Was aus ihr erwächst, wird eines Tages zu voller Blüte aufgehen.
Ich glaube, dass wir keine stärkere Kraft realisieren können als diejenige, nach der das Herz uns den Weg weist. Das klingt hochgestochen, aber es trifft einen Ton, der der Sache würdig ist. Wenn wir unserer Wahrheit folgen, öffnen sich Türen, hinter denen die Aufgaben warten, zu denen wir vor unserer Geburt ja gesagt haben. Und es werden diese Aufgaben sein, in denen wir unsere höchste Erfüllung erfahren.
Mögen weitere junge Menschen die Samen säen, aus denen bald erwächst, was blühen soll.
Die Aufzählung dient natürlich eher als Veranschaulichung - es macht wenig Sinn, sie zum Zwecke der Vollständigkeit auszuführen, da die Einzelwissenschaften auch zusammengenommen nicht abzubilden vermögen, was eigentlich Gegenstand meiner Studien war.
Psionisch bezeichnet übernatürliche Fähigkeiten, die als mentale, übersinnliche Kräfte angesehen werden.
Studien und Umfragen (siehe z.B. hier und hier) zeigen, dass Soft Skills in der modernen Arbeitswelt immer wichtiger werden. Arbeitgeber legen zunehmend Wert auf Fähigkeiten wie Kommunikationsstärke, Empathie, Anpassungsfähigkeit und kritisches Denken – oft mehr als auf reine Fachkenntnisse. In einer Welt, die sich rasant verändert, sind diese Kompetenzen essenziell, um mit Komplexität und Unsicherheit umgehen zu können. Gerade in interdisziplinären und kreativen Berufsfeldern entscheidet nicht mehr nur das Wissen über Erfolg, sondern die Fähigkeit, es sinnvoll in soziale und dynamische Prozesse einzubringen.
Das ist einer der zentralen und kritikwürdigsten Effekte des Bologna-Prozesses. Der Bologna-Prozess ist eine europäische Hochschulreform, die 1999 mit der Bologna-Erklärung von 29 Bildungsministern ins Leben gerufen wurde. Ziel war die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums (European Higher Education Area, EHEA) mit vergleichbaren Studienabschlüssen, einem einheitlichen Leistungspunktesystem (ECTS) und einer stärkeren Arbeitsmarktorientierung.
Siehe Focus-Artikel: „Gen Z hadert mit „wertlosen“ Uni-Abschlüssen“.
Das nennt sich „kompetenzbasiertes Recruiting“. Der Trend in diese Richtung wird in dieser Studie gut anschaulich. Die Studie enthält viele weitere Informationen, die in meinen Essay nicht einfließen, aber meinen Punkt unterstreichen.
Das Adjektiv „radikal“ ist vom lateinischen radix (Wurzel) abgeleitet und beschreibt das Bestreben, gesellschaftliche und politische Probleme „an der Wurzel“ zu greifen und von dort aus möglichst umfassend, vollständig und nachhaltig zu lösen.
Das Coyote Mentoring geht auf Tom Brown Jr. zurück, der als Junge von einem Apachen-Ältesten in der Tradition des Kojoten unterwiesen wurde.
Jon Young, Ellen Haas und Evan McGown haben die uralte Methode der Naturvölker durch zwei Bücher einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ihre Nachforschungen zeigen, dass die Methode nicht nur bei den Apachen angewendet wurde, sondern bei Naturvölkern auf der ganzen Welt. Viele Erkenntnisse der modernen Wissenschaft bestätigen die zentralen Elemente des Coyote Teachings: so sei Lernen z.B. nur dann erfolgreich, wenn echtes Eigeninteresse und intrinsische Motivation im Lernenden wirkt.
Beim Coyote Mentoring ist die Haltung des Mentors entscheidend. Seine Aufgabe besteht maßgeblich darin, den Lernenden eigene Lernerfahrungen zuzutrauen und zu ermöglichen, während er dem langfristigen Lernprozess zu vertrauen weiß. Er ist als Vorbild präsent und weiß die Interessen, Widerstände, Ängste und die Motivation der Lernenden richtig einzuschätzen.
Der Mentor weiß, dass die Lernprozesse nur im Lernenden selbst stattfinden können. Auf Fragen des Lernenden werden häufig weiterführende Fragen gestellt. Erst bei ernsthafter Gefahr greift er in das Lerngeschehen ein. Wichtig ist, dass die Lernenden aus eigenem Antrieb Erfahrungen machen. Bewertungen werden deshalb vermieden bzw. zurückhaltend abgegeben. Vielmehr wird die Selbstbeurteilung gefördert.
Wow. Das ist ein beeindruckender Artikel und eine gut nachvollziehbare Geschichte, die Du erzählst. Es gäbe Vieles zu kommentieren :) Vielleicht erst einmal: Ich selbst war auf der Uni, und hatte das Glück, so gerade noch nach alter Studienordnung auf Lehramt zu studieren (in Heidelberg) -- was hieß, dass ich in meinen Fächern im Durchschnitt nur einen Schein pro Semester machen musste, und insgesamt problemlos 7 Jahre studieren konnte. Zudem gab es "damals" (2008-2015) viele Dozenten "vom alten Schlag", zumindest in meinen Fächern (Englisch und Philosophie). In den Philosophie-Seminaren, die ich besuchte, ging es den Dozenten meistens wirklich darum, dass wir lernen, uns mit einem Text gründlich auseinander zu setzen. Das heißt, wir lasen kurze Texte langsam (in manchen Seminaren waren es nur 20 Seiten für das ganze Semester), und mein Lieblingsdozent wollte nicht einmal, dass wir in unseren Hausarbeiten Sekundärliteratur nutzten. Für mich geschah der "Ausstieg" aus dem System dann aber mit der Promotion, weil ich schnell mitkriegte, in was für ein Hamsterrad man gerät, aus dem man selbst als Prof. nicht so richtig wieder herauskommt. Was schade ist, weil ich glaube, dass junge erwachsene Menschen in Philosophie zu "unterrichten" (sprich: zu begleiten bei ihrem eigenen Erkenntnisstreben) genau mein Ding wäre :)
Aktuell dümpel ich ein wenig im Limbo meiner Elternzeit herum, will nicht zurück an die staatliche Schule, weiß aber auch nicht so recht, wohin ich mich genau wenden sollte, und weil ich seit meiner Kindheit Schriftsteller sein wollte, habe ich dann erstmal ausprobieren wollen, auf Substack zu veröffentlichen. Als Testlauf sozusagen, ob es sich richtig anfühlt.
Am Ende meines Studiums habe ich übrigens Rudolf Steiners Die Philosophie der Freiheit entdeckt und von dort aus dann die meisten seiner veröffentlichten Bücher gelesen und einige der Vortragszyklen. Sehr beeindruckend. Parallel dazu habe ich den Yoga von Heinz Grill entdeckt, der sich stark an Rudolf Steiner in seiner Terminologie und Forschungsart orientiert und in Italien eine "Freie Spirituelle Hochschule" aufbaut, die sehr wenig an eine Universität im schlechten Sinne erinnert. Falls es dich interessiert, kannst du dir ihre Seite mal anschauen: https://yoga-und-synthese.de
Ich werde mir mal die Angebote anschauen, die du im Artikel erwähnt hast! LG Conrad
Danke Paul, für diesen wunderschönen und berührenden Text! Ich bin überzeugt davon, dass deine Generation letztendlich einen Unterschied machen wird. Du schreibst: "Ich wünsche mir, darin begleitet zu sein, von Männern und Frauen, von Mentoren und Mentorinnen, die bereit sind, ihre Weisheit und ihr Wissen weiterzuschenken." Als freie Journalistin und Autorin, Querdenkerin und Mutmacherin biete ich mich gerne als Mentorin an. :-)